23. November 2021
Am Dienstag, dem 23. November 2021, übernahmen fünfzig bewaffnete Taliban gewaltsam die Kontrolle über die Nationale Anwaltskammer von Afghanistan (AIBA).
Bei ihrem gewaltsamen Eindringen ordneten sie die Überprüfung aller Verträge an, die die Anwaltskammer mit Ausländern unterzeichnet hatte. Die Taliban beschlagnahmten auch die Gelder der 2500 Anwälte, die die Anwaltskammer finanzieren. Diese Handlungen stellen eine ernste Gefahr für die Integrität der Anwaltskammer und das Berufsgeheimnis dar.
Die AIBA ist eine der wenigen Anwaltskammern der Welt, die eine Frauenquote in allen Exekutivausschüssen hat und bei der mindestens ein Vizepräsident eine Frau sein muss. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht bekannt, welche Auswirkungen die „Verstaatlichung“ der Anwaltskammer Afghanistans insbesondere auf die Frauen haben wird, die die Anwaltskammer leiten.
Der Angriff auf die Anwaltskammer ist Teil des Abbauprozesses der Rechtsstaatlichkeit in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021. Er folgt insbesondere auf die Übernahme der Kontrolle über den Zugang zum Anwaltsberuf durch das Justizministerium. Alle Rechtsanwälte des Landes, die über eine Lizenz der Nationalen Anwaltskammer Afghanistans verfügen, müssen nun eine neue Lizenz vom Ministerium erwerben. Das Ministerium warnte die Anwälte, dass sie andernfalls ihren Beruf nicht ausüben dürften.
Diese Entscheidung soll es der Taliban-Regierung ermöglichen, nicht nur die Zulassung von Anwälten zu kontrollieren, sondern sie auch zu registrieren, wodurch sie einem größeren Risiko der Verfolgung ausgesetzt sind.
Damit untergraben die Taliban direkt die Unabhängigkeit der Rechtsberufe in dem Land. Im Jahr 2007 wurde die Nationale Anwaltskammer Afghanistans (AIBA) durch ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz, das sogenannte „Verteidigungsgesetz“, gegründet. Mit diesem Gesetz sollten die Rechtsanwälte mit einem nichtstaatlichen und unabhängigen Organ ausgestattet werden, um den Zugang, das Leben und die Aktivitäten des Berufsstandes zu regulieren und zu koordinieren und die Rechte auf Verteidigung zu gewährleisten.
Das Gesetz regelt die Ausübung und die Tätigkeit des Anwaltsberufs. Das Justizministerium machte keine Angaben zu einer möglichen Änderung des Gesetzes oder des Zulassungsverfahrens. Bisher beschränkt sich das Ministerium daher unter Verstoß gegen das Gesetz darauf, den Zugang zu den Lizenzen für die Ausübung des Anwaltsberufs zu kontrollieren.
Das Observatorium verurteilt diese Einmischung der Regierung in die Ausübung des Anwaltsberufs in Afghanistan aufs Schärfste und fordert die sofortige Einhaltung aller der freien und unabhängigen Ausübung dieses Berufs innewohnenden Regeln.
Das Observatorium erinnert daran, dass die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte eine der wichtigsten Grundlagen eines Rechtsstaats ist.
Das Observatorium erinnert auch daran, dass in den 1990 in Havanna verabschiedeten Grundprinzipien über die Rolle der Anwaltschaft, insbesondere in den Grundsätzen 16 und 25, festgelegt ist, dass die Anwaltschaft in der Lage sein muss, ihre Aufgaben zu erfüllen:
16.Die Behörden stellen sicher, dass Rechtsanwälte a) alle ihre beruflichen Aufgaben ohne Behinderung, Einschüchterung, Belästigung oder unzulässige Einmischung erfüllen können; c) für Maßnahmen, die sie im Einklang mit ihren anerkannten Berufspflichten und -standards sowie ihrem Berufsethos ergreifen, nicht verfolgt werden oder mit wirtschaftlichen oder anderen Sanktionen bedroht sind.
25.Die Berufsverbände der Rechtsanwälte arbeiten mit den Behörden zusammen, um sicherzustellen, dass jedermann tatsächlich gleichen Zugang zu Rechtsdienstleistungen hat und dass die Rechtsanwälte ohne unzulässige Einmischung in der Lage sind, ihre Mandanten im Einklang mit dem Gesetz sowie den anerkannten Berufsnormen und Standesregeln zu beraten und zu unterstützen.
Das Observatorium bietet den afghanischen Anwälten ihre volle Unterstützung an.