TÜRKEI: Gemeinsame Erklärung zur Verurteilung inakzeptabler Angriffe auf den Anwaltsberuf

TÜRKEI: Gemeinsame Erklärung zur Verurteilung inakzeptabler Angriffe auf den Anwaltsberuf

Das Internationale Observatorium für bedrohte Anwälte(OIAD) verurteilt gemeinsam mit der internationalen Rechts- und Menschenrechtsgemeinschaft die Bestrebungen, die Unabhängigkeit der Anwälte und die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei zu untergraben.

Die eskalierenden Angriffe der türkischen Behörden auf die Istanbuler Anwaltskammer, ihre Führung und die Mitglieder der Anwaltschaft sind ein Affront gegen die Unabhängigkeit der Anwaltschaft und die Rechtsstaatlichkeit, warnte heute eine internationale Koalition von Anwälten, Anwaltskammern und Menschenrechtsorganisationen.

Absetzung gewählter Führungspersönlichkeiten

Am 21. März 2025 erließ das 2. Istanbuler Anwaltsgericht ein Urteil zur Absetzung der gewählten Führung der Istanbuler Anwaltskammer gemäß Artikel 77/5 des Anwaltsgesetzes. Der Beschluss schreibt die Entlassung des Präsidenten und des Vorstands der Anwaltskammer vor und ordnet Neuwahlen an. Dieser Schritt untergräbt die Unabhängigkeit der Anwaltschaft und stellt eine Verhöhnung der Grundprinzipien der Justiz und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei dar.

Strafverfahren gegen die Leitung der Anwaltskammer

Gleichzeitig wurden der Präsident der Istanbuler Anwaltskammer, İbrahim Kaboğlu, und zehn Vorstandsmitglieder wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation durch die Presse“ und „öffentlicher Verbreitung irreführender Informationen“ angeklagt, wobei die Staatsanwaltschaft bis zu 12 Jahre Haft und politische Verbote fordert.

Diese Anklagen und die damit verbundenen Zivilverfahren gehen unmittelbar auf eine öffentliche Erklärung der Anwaltskammer zur Ermordung der beiden Journalisten Nazım Daştan und Cihan Bilgin in Syrien im Dezember 2024 zurück, in der eine unabhängige Untersuchung ihres Todes gefordert wurde. Die Tatsache, dass ein Berufsverband nun wegen einer solchen prinzipienfesten, auf Rechten basierenden Intervention strafrechtlich verfolgt wird, verdeutlicht die schwerwiegenden Beschränkungen, mit denen Angehörige der Rechtsberufe in der Türkei konfrontiert sind, die sich für die Menschenrechte einsetzen.

Willkürliche Inhaftierung eines Vorstandsmitglieds

Die willkürliche Inhaftierung des Vorstandsmitglieds der Istanbuler Anwaltskammer, Fırat Epözdemir, ist ein weiteres Beispiel für die Schikanen der Justiz gegen die Führungsriege der Anwaltskammer. Epözdemir wurde am 23. Januar 2025 nach der Rückkehr von einem Besuch beim Europarat verhaftet und in einer Anklageschrift vom 8. April 2025 wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ und „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ angeklagt. Seine fortgesetzte Inhaftierung und Strafverfolgung spiegeln ein verstärktes Vorgehen gegen Juristen in der Türkei wider, die die staatliche Politik infrage stellen und die Menschenrechte verteidigen.

Eskalierende Angriffe auf Anwälte inmitten der Proteste im März 2025

Seit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu am 19. März 2025 ist es in der Türkei zu weitreichenden Protesten und der Verhaftung von Hunderten von Menschen im ganzen Land gekommen. Anwälte, die auf diese Massenverhaftungen reagierten, um Rechtsbeistand zu leisten, wurden selbst zur Zielscheibe von Repressionen. In İzmir und İstanbul wurde eine Reihe von Anwälten verhaftet, als sie versuchten, inhaftierte Demonstranten zu unterstützen, darunter der ehemalige Vorsitzende der Anwaltskammer İzmir, Özkan Yücel, der bei einer Razzia am frühen Morgen in seiner Wohnung festgenommen wurde. Am 28. März 2025 wurde auch Mehmet Pehlivan, ein Anwalt, der Ekrem İmamoğlu vertritt, festgenommen und später unter richterlicher Aufsicht wieder freigelassen.

Zusätzlich zu diesen Verhaftungen sahen sich Anwälte, die Personen in Gewahrsam vertreten wollten, mit ernsthaften Hindernissen konfrontiert, wenn sie versuchten, mit ihren Mandanten Kontakt aufzunehmen und ihre beruflichen Pflichten zu erfüllen. In vielen Fällen wurde ihnen der Zugang zu ihren in Polizeigewahrsam befindlichen Mandanten verweigert oder sie durften sich nur unter eingeschränkten Bedingungen treffen, die die Vertraulichkeit und eine wirksame Vertretung beeinträchtigten. Berichten zufolge wurde Anwälten der Zutritt zu Gerichtsgebäuden während wichtiger Vernehmungen verwehrt, oder es wurde ihnen mitgeteilt, dass Anhörungen in ihrer Abwesenheit stattgefunden hätten. In einigen Fällen wurden sie sogar daran gehindert, den Aufenthaltsort der Festgenommenen zu bestätigen. Die Weigerung, das Schicksal oder den Aufenthaltsort von inhaftierten Personen anzuerkennen, mitzuteilen oder zu bestätigen, stellt ein Element des Verbrechens des Verschwindenlassens dar.

Diese Maßnahmen der türkischen Behörden stellen einen direkten Eingriff in das Recht auf Rechtsbeistand dar, der den Zugang zur Justiz erschwert und die legale Unterstützung friedlicher Proteste und Dissidenten weiter kriminalisiert. Sie stellen eine gefährliche Verschärfung des Drucks auf die Anwaltschaft und eine Aushöhlung der Garantien für faire Verfahren und die Rechtsstaatlichkeit dar.

Aufruf zum Handeln

Diese eskalierenden Angriffe offenbaren ein Muster der Repression, das die Menschenrechte und die zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit eingerichteten Verfahrensgarantien und -mechanismen mit Füßen tritt. Sie sind auch ein Beispiel für die Bemühungen, den Anwaltsberuf ins Visier zu nehmen und internationale Standards zu untergraben, die die Rolle und die Rechte von Anwälten und ihren Berufsverbänden bei der Ausübung ihrer beruflichen Funktionen schützen.

Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf:

  • Fordern Sie die sofortige Einstellung aller zivil- und strafrechtlichen Verfahren gegen die Führung und die Mitglieder der Istanbuler Anwaltskammer.
  • Verurteilen Sie öffentlich den Missbrauch des Justizsystems durch die türkischen Behörden, um unabhängige Juristen und Institutionen zu unterdrücken und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtsstaatlichkeit zu untergraben.
  • Bestehen Sie auf der sofortigen und bedingungslosen Freilassung von Fırat Epözdemir und allen anderen Anwälten, die nur wegen der Ausübung ihrer beruflichen Pflichten inhaftiert sind.
  • Fordern Sie die türkischen Behörden auf, der Istanbuler Anwaltskammer zu erlauben, unabhängig und ohne Einschüchterung, Schikanen oder Repressalien zu arbeiten.
  • Fordern Sie internationale Mechanismen, einschließlich des Europarats, der Vereinten Nationen und der Organe der Europäischen Union auf, entschiedene und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Unabhängigkeit der Anwaltschaft, die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei zu wahren.

Unterzeichner (in alphabetischer Reihenfolge):

Amnesty International

Asociación Americana de Juristas (American Association of Jurists, AAJ)

Berliner Rechtsanwaltskammer

Défense Sans Frontière-Avocats Solidaires (Defense Without Borders-Solidarity Lawyers, DSF-AS)

Deutscher Anwaltverein

European Association of Criminal Bars (ECBA)

European Association of Lawyers for Democracy and World Human Rights (ELDH)

Federation of European Bars (FBE)

Foundation of the Day of the Endangered Lawyer

Genfer Advokatenkammer

Giuristi Democratici

Human Rights Watch (HRW)

Indian Association of Lawyers

International Bar Association’s Human Rights Institute (IBAHRI)

International Federation for Human Rights (FIDH)

International Federation for Human Rights (FIDH), within the framework of the Observatory for the Protection of Human Rights Defenders

Law Society of England and Wales (LSEW)

Lawyers for Lawyers

Lawyers’ Rights Watch Canada (LRWC)

Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés (European Association of Judges and Public Prosecutors, MEDEL)

Mailänder Anwaltskammer

National Association of Democratic Lawyers (South Africa)

National Union of Peoples’ Lawyers (Philippines)

Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein

Kommission zum Schutz der Menschenrechte und der freien Ausübung des Anwaltsberufs  der Anwaltskammer von Barcelona

Internationales Observatorium für bedrohte Anwälte (OIAD)

The New York City Bar Association

Turkey Human Rights Litigation Support Project (TLSP)

Vereinigung Demokratischer Jurist:innen, VDJ

World Organisation Against Torture (OMCT), within the framework of the Observatory for the Protection of Human Rights Defenders