Paris, den 17. Oktober 2024 – Richard Sédillot, Mitglied der Anwaltskammer von Rouen und des Vorstands des Internationalen Observatoriums für gefährdete Anwälte, reiste vom 15. bis 20. August und vom 8. bis 11. September nach Tunesien, um die Gerichtsverhandlungen im Prozess gegen die Rechtsanwältin Sonia Dahmani zu beobachten.
Die tunesische Anwältin war am 11. Mai 2024 festgenommen und wegen „Verbreitung falscher Nachrichten“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. Gegen sie laufen derzeit fünf Gerichtsverfahren wegen Meinungsdelikten, die angeblich während ihrer Fernseh- oder Radioauftritte begangen wurden.
Während ihrer Teilnahme an der Sendung „Edenya Zina“ (Das Leben ist schön) am 7. Mai 2024 erklärte RAin Dahmani, dass die schwierigen wirtschaftlichen Lebensbedingungen in Tunesien Migranten nicht dazu bewegen würden, sich dort niederzulassen, und sagte in ihrer Eigenschaft als Kolumnistin in ironischem Ton: „Was für ein tolles Land, das so attraktiv ist, dass man sich dort unbedingt niederlassen möchte“.
Am 9. Mai 2024 leitete der erste stellvertretende Staatsanwalt beim Berufungsgericht von Tunis eine gerichtliche Untersuchung ein. Die mit dem Fall betraute Untersuchungsrichterin erließ einen Vorführungsbefehl gegen RAin Dahmani, der von vermummten Ordnungskräften vollstreckt wurde, die am 11. Mai brutal in das Haus der tunesischen Rechtsanwälte eindrangen.
Am 30. Mai übergab die Untersuchungsrichterin RAin Dahmani der Strafkammer des erstinstanzlichen Gerichts von Tunis.
Sonia Dahmani wurde vom Untersuchungsrichter des erstinstanzlichen Gerichts Tunis an die Anklagekammer des Berufungsgerichts Tunis verwiesen.
Obwohl die Anwälte von RAin Dahmani gegen diese Entscheidung Berufung einlegten, wurde unsere Kollegin an die Strafkammer des erstinstanzlichen Gerichts in Tunis verwiesen, die sie zu 12 Monaten Haft verurteilte. Gegen diese Entscheidung wurde Berufung eingelegt. Der Termin für die Verhandlung vor der Strafkammer des Berufungsgerichts wurde auf den 20. August 2024 festgelegt.
Die Anwälte von RAin Dahmani hatten große Schwierigkeiten, ihre Mandantin im Gefängnis zu besuchen. Der Anwalt kann sich nur eine Genehmigung ausstellen lassen, die für einen einzigen Besuch gilt.
Am 20. August 2024 verlangte die Gefängnisdirektorin, dass Sonia sich Anforderungen unterwarf, die darauf abzielten, sie zu erniedrigen (Tragen von Flip-Flops, Verbot, ihre Haare nach ihren Wünschen zu kämmen, Tragen eines Schleiers, der traditionell von Frauen getragen wird, die wegen Prostitution oder Sittlichkeitsdelikten vor Gericht stehen). Unsere Kollegin verstand, dass sie vor Gericht geführt werden würde, wenn sie diesen Forderungen nicht nachgab, und stimmte zu, sich diesen Forderungen zu unterwerfen, doch die Leiterin der Strafvollzugsanstalt lehnte ihre Vorführung vor Gericht dennoch ab.
Bei der Verhandlung am 20. August 2024 machten die Anwälte unter anderem geltend, dass die Grundrechte der Anwältin erheblich verletzt worden seien und auch das Recht auf Verteidigung beeinträchtigt sei. Der Fall wurde auf den 10. September vertagt.
Am 10. September 2024 wurde Sonia Dahmani ohne Verhandlung, Klägeranträge oder Plädoyers zu acht Monaten Haft verurteilt. Das Urteil wurde nicht in öffentlicher Sitzung verkündet. Die grundlegendsten Rechte der Verteidigung wurden somit völlig missachtet. Gegen diese Entscheidung wurde Kassationsbeschwerde eingelegt.
Die nächste Verhandlung findet am 17. Oktober 2024 statt. Es handelt sich um eine Verhandlung, die nach der Entlassung unserer Kollegin aufgrund der Entscheidung eines zweiten Untersuchungsrichters stattfindet. Diesmal wird ihr vorgeworfen, den in Tunesien grassierenden Rassismus bedauert und die Existenz von Bussen angeprangert zu haben, zu denen schwarze Tunesier keinen Zutritt haben. Ein Bericht des OIAD über die Nachbereitung des Prozesses wird veröffentlicht.